Dienstag, 8. September 2015

Die Perle des Baltikums

Hier kam man nicht auf den Gedanken, sich in einer europäischen Hauptstadt zu befinden. Ich zückte den Reiseführer, überflog erneut die Kurzbeschreibung der Stadt („Rom des Ostens", „Boomende Metropole", „Perle des Baltikums" und weitere dreiste Lügen in Superlative gewandet) und musste neidlos anerkennen, dass bei der litauischen Tourismusbehörde offenbar echte PR-Profis am Werk waren.

Wer aber jetzt glauben mag, wir hätten uns in einem vilniotischen Ghetto eingemietet, dem sei versichert, dass es von unserem Guesthouse in die Altstadt, also ins touristische Zentrum, gerade einmal drei Minuten zu Fuß sind. Wenn man sich Zeit lässt wie damals im Ferienpark Müritz Ferienhaus .

Und das Entsetzen, das sich auf unserer ersten Kiezbegehung einstellte, wurde bis zur Unerträglichkeit gesteigert, als ich den Blick von der Endzeitkulisse losreißen konnte und die Menschen betrachtete, die in dieser zu leben scheinen. Dort stand ein Rollstuhlfahrer mitten auf dem Gehweg. Da war der Ferienpark Hambachtal Angebote besser.

Er starrte vor Dreck und zuckte lediglich sporadisch. Wie lange saß er wohl schon da? Menschen gingen mit gesenkten Blicken oder gänzlich beiläufig vorüber. Wir hielten zumindest inne und fragten uns, ob wir etwas tun sollten. Aber was hätte man tun sollen? Die soziale Kälte, die diese ganze Situation ausstrahlte, fuhr uns in die Glieder und ließ uns frösteln. Kaum haben wir den Blick von dieser Tragödie beschämt abgewendet, begegnete uns ein Stadtstreicher.

Ich hüte mich davor, Obdachloser zu sagen, da ich nicht weiß, ob er nicht vielleicht doch eine Bleibe in dieser Ruinenstadt hat. Egal. Das Gesicht verschorft, mit Ausschlägen übersäht und geziert von einer offene Wunde. Mit toten Augen trottete er in Lumpen gehüllt an uns vorbei. Das war zu viel. Wir mussten umkehren und zurück in unsere trostlose Pinte, wo wir die Gäste nun etwas besser verstanden.

Schnorren nach allen Regeln der Kunst. Und dieser Anblick sollte nicht der letzte seiner Art sein. Bereits am ersten Abend wurden wir beim Rauchen vor einer Kneipe angesprochen. Er wollte Geld. Hatten wir nicht dabei. Dann halt eine Zigarette in Vilnius .

Auch am Tisch gelassen. Dann wenigsten 50 Gramm Bier (ja, wenn die Währung schon klingt wie ein Hohlmaß, muss man den Alkohol eben nach russischem Vorbild in Gewichtseinheiten bemessen), flehte er und streckte uns seine schwarzen Hände entgegen, in die wir ihm allen Ernstes einen Schluck Bier schütten sollten. Konnte es nicht mehr ertragen und drückte ihm mein halbes Bier in die Hand (Dieses wurde in einem Plastikbecher ausgeschenkt, daher kein Problem).

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